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Burgdorf, Schweiz

Protest-Marsch der freischaffenden Kulturschaffenden

Aktualisiert: 10. Apr. 2021




Wer mich kennt, weiss dass ich definitiv nicht zu den Menschen gehören, die auf Krawall gebürstet sind. Es braucht viel es sich mit mir zu verscherzen oder mich wütend zu machen. Was mich auf die Palme bringt ist Ungerechtigkeit. Zurzeit erlebe ich leider viel davon. Ich finde es ungerecht, dass Flugzeuge (mit Hinweis auf die angeblich gute Lüftung) wieder vollbesetzt fliegen dürfen, die Passagiere natürlich nur mit Maske, die Theater und Konzerthäuser aber nur vor einer Auslastung von 25% spielen dürfen. Wer kann sich das leisten ausser die staatlich bezuschussten Theatern?

Neuerdings werden an den Flughäfen gratis Corona-Tests für die Rückkehrer aus den Risikogebieten angeboten. Danke für die Verschwendung unserer Steuergelder! Wer es sich leisten kann, in Urlaub zu fliegen, erst noch wissentlich in ein Risikogebiet ohne wichtige Gründe (sterbende Oma o.Ä) kann auch den Test selbst zahlen! Was für eine Farce gegenüber dem Pflegepersonal, das nach wie vor vieler Orts nicht regelmässig durchgetestet wird!

Ich finde es unfair, dass die freischaffenden Kunstschaffenden beim Corona Konjunktur-Paket durch alle Raster fallen. Wir Musiker, Artisten und auch viele andere Künstler haben nun mal nicht Betriebskosten im klassischen Sinn, aber wir müssen auch von etwas Leben. Wir haben Mieten, Versicherungen, Lebensmittelausgaben genauso wie jeder andere Bürger auch. Viele von uns konnten vor der Pandemie von ihrer Arbeit ohne grössere Probleme leben. Nun werden wir nach den Berliner Landesgeldern, die für 3 Monate angedacht waren, auf AGB 1 (Arbeitslosengeld 1) oder Hartz 4 verwiesen. Nur: Wer nie festangestellt war kann kein AGB 1 beantragen und auch mit Hartz 4 ist das so eine Sache. Eigentlich sollte eine vereinfachte Beantragung folgen, doch Tatsache ist, dass uns freiberuflichen Künstlern viele Anträge von Hartz 4 nicht bewilligt werden oder einfach nicht bewilligt werden können, sei es weil mühsam Erspartes auf dem Konto liegt, ("brauchen Sie das doch erst mal auf") der Partner noch zu viel verdient oder, oder, oder. Die Liste lässt sich ohne weiteres fortführen. Erschwerend kommt hinzu, dass wenn man Hartz 4 bekommt, nur eine gewissen Summe dazu verdienen darf. Wird dieser sehr niedrig angesetzte Betrag überschritten, wird es kompliziert mit Abzügen etc. Im Klartext: Wenn ein Artist für ein Engagement 3 Tage beschäftigt ist und dafür 1000 Euro bekommt, müsste er sich aus dem Hartz 4 abmelden, "ich habe jetzt einen Job", um sich dann nach den 3 Tagen erneut anzumelden, "ich habe keinen Job mehr", weil von einem Engagement und 1000Euro kann er/ sie nicht leben in diesen ungewissen Zeiten und ganz ehrlich: Eine Gage von 1000 Euro sind grosszügig bemessen.

In der Kunst wird oft der fehlende Wirtschaftsfaktor als Argument herbeigezogen. Das ist leider ein Ammenmärchen, das sich hartnäckig hält. Hier ein paar konkrete, aktuelle Zahlen:

Alle Freischaffenden Künstler, die da sind:

Sänger*innen, Arist*innen, Jongleur*innen, Bühnentechniker*innen, Bühnenbildner*innen, Lichttechniker*innen, Maskenbildner*innen, Inspizient*innen, Souffleure, Instrumentalist*innen, Graphiker*innen, Schriftsteller*innen, Akrobat*innen, Tänzer*innen, Schneider*innen, Spielleiter*innen, Regisseur*innen, Korrepetitor*innen, Dirigent*innen, Strippen*innen, DJs, Manager*innen, Organisator*innen, Cabarets*innen, Clowns, Komiker*innen usw.

Wir alle zusammen setzten PRO JAHR(!) 100 MILLIARDEN EURO um! Wir bekleiden rund 7,5 Millionen Arbeitsplätze! Wir alle, bezahlen Steuern, oftmals pro Quartal eine Steuervorauszahlung! Auch in diesem Jahr, wo bei den meisten von uns das Geld knapp ist. Was nützt uns da eine Stundung? Nichts!

Und wir werden im Konjunkturpaket einfach "vergessen"!

Unter dem Motto Künstler! Hilfe! Jetzt! (Hier der Link dazu: https://protest-marsch-berlin.de) gab es am vergangenen Sonntag 9.8.2020 einen Protest-Marsch in Berlin. Seit einigen Tagen ist es in Berlin und Umgebung über 30°C. Nicht gerade mein Wetter als hellhäutiger, rothaariger Mensch. Trotzdem bin ich hingegangen, weil es mir wichtig war. Ich habe im Vorfeld darauf geachtet, dass ich viel getrunken habe und zusätzlich viel Wasser mitnahm. Mit grosszügig aufgetragener Sonnencrème, dem Hut auf dem Kopf und meiner Maske bin ich um 12Uhr los gegangen. Ich war um 12.45 an der Gedächtniskirche, Tauentziehenstrasse/Kurfürstendamm und um 13 Uhr formierte sich der Protestzug.


Das Bild, das sich mir bot, war kunterbunt und toll! Von allen Sparten kamen Künstler*innen:

Dragqueens mit unglaublich langen Beinen, die viele von uns Frauen vor Neid blass werden lassen würden ;) , liefen mit einem Banner durch die Strassen. In umgebauten, offenen Feuerwehrautos spielten Musiker, auf dem Dach tanzten bunte Tänzer*innen und Artist*innen jonglierten. Auch eine tolle Flamenco Schule und Jongleure zeigten ihr Können. Es war wirklich kunterbunt und kreativ. Fast alle haben sich etwas einfallen lassen, um auf ihre Kunst aufmerksam zu machen. Unter all diesen Künstlern war ich als Sängerin. Erst musste ich meine Gewerkschaft finden (Genossenschaft Deutscher Bühnen Angehöriger). Eine Stunde und ein RBB-Interview später stieß ich dann auf meine Mitstreiter*innen der GDBA. Ich lernte sehr nette Kollegen und Kolleginnen kennen. Wir liefen gemeinsam bis zum Brandenburgertor, wo dann ab 17 Uhr die Kundgebungen statt fanden. Der Weg dorthin führte gut geschützt durch die Polizei über die Strassen, die normalerweise sehr viel befahren sind. Manchmal blieb der Protest-Zug stehen. Wer Glück hatten, befand sich im Schatten der Häuser. Einmal standen wir mitten auf der Kreuzung am Potsdamer Platz still. Ich habe selten dort gestanden, das war beeindruckend für mich. Der ganze Protest-Marsch war sehr friedlich und stimmungsvoll. Er erinnerte mich an den Karneval der Kulturen, der dieses Jahr auch Corona zum Opfer gefallen ist. Alle achteten auf Abstand und fast alle trugen Masken. Von Anfang bis zum Ende. Dass die Tänzer*innen und Akrobat*innen bei dieser Hitze keine Maske trugen, versteht sich wohl von allein.




Ziel dieses Anlasses war nicht die Corona-Massnahmen in Frage zu stellen. Es ging vielmehr darum uns zu zeigen, laut zu werden und dafür zu kämpfen, dass uns eine Perspektive aufgezeigt wird, dass wir auch unterstütz werden, bis alle Corona-Massnahmen aufgehoben sind und wir wieder normal unserer Berufung und unserem Beruf nachgehen können. Wir wollen nichts geschenkt bekommen, nein, wir wollen arbeiten! Jedoch ist vielen von uns bedingt durch die Coronamassnahmen das Arbeiten untersagt! Das ist ein sehr grosser Unterschied!

Was bringt es einem Tuchakrobaten, der seit 30 Jahren von seiner Kunst lebt und Menschen damit glücklich macht, wenn ihm das Arbeitsamt rät, sich zum IT-Techniker umschulen zu lassen. Da stellt sich mir die Frage WARUM? WARUM soll er das? Wird einem angehenden Arzt, der nach seiner Assistenz-Zeit nicht unmittelbar einen Job findet geraten, er solle sich zum Bäcker oder Sanitär umschulen lassen, die würden dringend gesucht? Wohl kaum!

Kunst ist systemrelevant. Was wäre eine Hochzeit ohne Musik, ohne Dj? Was wäre unsere Gesellschaft ohne Theater und Oper, ohne Komik? Was wäre unsere Gesellschaft ohne Kultur? Ich glaube, es wäre eine arme, leere und dumpfe Gesellschaft mit überlasteten Psycholog*innen und Psychiatern. Bereits jetzt sind diese Berufe an ihren Kapazitätsgrenzen angelangt. Im Durchschnitt dauert es in Deutschland bis man einen Platz bekommt für eine Psychotherapie 20 Wochen. Das wird sich nun durch die Pandemie wohl noch verschärfen.

Nach 17Uhr bin ich müde von der Hitze, aber erfüllt von den vielen Eindrücken nach Hause zurückgekehrt.

Ich fand es sehr schade, dass nur sehr wenig festangestellte Kunstschaffende an der Kundgebung teilnahmen. Gerade weil sie keine oder nur sehr geringfügige finanzielle Einbussen hinnehmen müssen in dieser für uns alle schwierigen Zeit, wäre es umso schöner, wenn sie sich mit den freischaffenden Kunstschaffenden ihrer Branche auf diese Weise solidarisieren würden.

Ein Protestmarsch wirkt vor allem dann, wenn möglichst viele mit dabei sind. Ich bin dankbar, dass trotz der Hitze viele hingegangen sind und auf die Problematik aufmerksam gemacht haben. Ich würde mir unter den Künstlern insgesamt mehr Solidarität und Mut wünschen! Nur wenn wir gemeinsam anfangen gegen die Missstände zu kämpfen können wir etwas bewirken. Wir müssen weg von dieser Ja-Sager Mentalität aus Angst vor Konsequenzen sowohl in der Gesellschaft, als auch besonders in der Kunst! Kunst kann sich nur dann frei und zu ihrem Besten entfalten, wenn wir angstfrei proben und arbeiten können! Und das wünsche ich mir für alle von uns, egal ob festangestellt oder freischaffend!

In Berlin gibt es in der Zwischenzeit einen kleinen Lichtblick:

Die Chöre dürfen ENDLICH unter strengen Hygieneauflagen wieder in geschlossenen Räumen proben!





Bilder und Videos: Eigene Quelle

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