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Burgdorf, Schweiz

Das Marien-Leben oder Marienleben

Aktualisiert: 10. Apr. 2021



Das Marienleben ist den meisten von uns heute als Liederzyklus von Paul Hindemith bekannt.

Paul Hindemith (1895*-1963) hat diese Lieder zweimal vertont. Einmal als Opus 27 1923/1924 und später stark überarbeitet 1948 noch einmal herausgegeben.


Der Text stammt aus der Feder von Rainer Maria Rilke. Er wurde 1875 in Prag als René Karl Wilhelm Johann Josef Maria Rilke , damals Österreich-Ungarn geboren. Er war das zweite und einzige Kind von seinen Eltern. Seine Schwester wurde 1874 zu früh geboren und starb eine Woche nach der Geburt. Die Mutter Sophia konnte den Tod kaum verkraften. Sie suchte Trost in der Religion und war tief vom Glauben an die Mutter Gottes und die Engel beseelt. René bedeutet "Der Wiedergeborene". Auch er kam zwei Monate zu früh am 4.12. zur Welt, überlebte aber. Am 8.12. wurde er der Mutter Gottes geweiht und am 19.12. getauft. Kein Wunder, dass die Adventszeit bei Sophia und ihrem Sohn einen sehr wichtigen und feierlichen, religiös geprägten Stellenwert einnahm. Die kindliche Weihnachtszeit war geprägt von Engeln, der Mutter Gottes und Zeremonien anmutende Festlichkeiten, die sich zeitlebens in Rilkes Schaffen niederschlugen u.a. in den Gedichtzyklus "Das Marien-Leben" der 1912 innerhalb weniger Tagen entstand. Sophia Rilke band ihren Sohn mit aller mütterlichen Liebe an sich. Die Beziehung zu ihr war zeitlebens sehr eng und geprägt von unzähligen Briefen und Ritualen. So hat sich Rainer am Heiligabend jeweils zur selben Zeit zurückgezogen wie seine Mutter, auch wenn sie räumlich getrennt waren, um diese heiligen Tag auf ihre Weise und im Wissen ihrer Verbundenheit zu feiern. Sophia Rilke war eine sehr anspruchsvolle, gebildete Frau mit leicht reizbaren Nerven, die schnell überfordert war. Oft lag sie mit Migräne geplagt regungslos da. Ihre Stimmungen wechselten von der Euphorie in die Depression. Wahrlich keine einfache Gattin für Josef Rilke. Dieser Wesenszustand der Überspanntheit übertrug sich auch auf ihren Sohn. Sophia Rilke erkannte früh die emphatische und dichterische Begabung ihres Sohnes. Es schien, wie wenn er eine weibliche Seele hätte. So ist es nicht erstaunlich, dass Rilke oft Gedichte aus der Perspektive von Frauen verfasste. Er fühlte sich in das Herz von liebenden Frauen ein. Zeit seines Lebens besuchte Rainer Maria Rilke jedes Marien-Heiligtum, das auf seinem Weg lag. Es war für ihn, wie wenn sich eine geheime Tür öffnet, wenn er vor dem Bild der Mutter Gottes für seine Mutter eine Kerze anzündete und davor kniete. Zeit seines Lebens mussten Rilke und seine Mutter stets eine Balance zwischen Nähe und Distanz finden. Frauen spielten in Rilkes Leben eine grosse Rolle, meistens ältere Frauen wie Lou Andreas-Salomé, die ihn mit den Werken Nietzsches vertraut machte und ihn unter ihre Fittiche nahm. Als mütterliche Geliebte. Mit ihr bereiste er unter anderem Russland, wo er Dichter und Schriftsteller wie Lew Tolstoi traf. Er heiratete nur einmal: Die Malerin Clara Westhoff. Sie brachte am 12.12.1901 die gemeinsame Tochter Ruth zur Welt. In der Zeit um 1900 war die finanzielle Lage Rilkes denkbar schlecht. Viele Verlage wollten seine Gedichte und Bücher nicht verlegen, die Verkaufszahlen waren sehr gering. Er kämpfte ums Überleben. Die Geldnot und das Kindergeschrei wurden für Rainer unerträglich. Er reiste ab. Erst zu Freunden, später nach Paris. Clara kam nach Paris nach, wo sie wichtige Impulse und auch Anerkennung u.a. durch Rodin fand. Rilke und Clara versuchten bewusst ihr Ideal des absoluten Künstlertums zu leben. Doch die Familie blieb neben der körperlich schwachen Konstitution der Störfaktor in Rilkes Leben, so dass er immer wieder Clara und Ruth für Reisen verliess. Zu seiner Tochter konnte er keine Bindung oder Beziehung aufbauen.

Dafür aber immer wieder zu gut betuchten Frauen, die er für sich und seine Werke und vor allem als Mäzeninnen zu gewinnen konnte. Die Liste dieser bedeutenden Frauen ist lang und liest sich wie das "who is who" seiner Zeit: Marie von Thurn und Taxis, Loulou Albert-Lasard, Regina Ullmann, Ella Maria Never, Nanny Wunderly-Volkart. Diese Frauen unterstützen Rilke, indem sie ihm Geld, Obdach und vor allem ihre uneingeschränkte Bewunderung für sein Werk gaben. Sie trugen ihn auch durch seine 12-jährige Schaffenskrise. Bis er wieder zu sich selber fand und seine Duiner Elegien beenden konnte. Jedesmal wenn Rilke sich, sein Leben und Schaffen in einer Sackgasse wähnte, wechselte er den Wohnort. Das kam in seinem Leben sehr häufig vor. Erst auf einem kleinen Schloss, dem Château de Mouzo, im Wallis in der Schweiz fand er ab 1922 Ruhe und seine rastlose Suche ein Ende. Sein Gesundheitszustand verschlechterte sich zunehmend. Kurz vor seinem Tod 1926 wurde eine Leukämie diagnostiziert. Er starb am 29.12.1926 und wurde auf dem Bergfriedhof Raronin der Schweiz beigesetzt.

Rilkes Gedichte haben sehr viele Komponisten inspiriert. Zahlreiche Vertonungen zeugen davon. So ist es nicht erstaunlich, dass Paul Hindemith sich dem Gedichtzyklus "Das Marien-leben" annahm. Hindemith selbst war ein universal Musiker. Er hatte umfangreiche Erfahrung als Orchestermusiker( Violine/Bratsche), Kammermusiker des Amarquartetts, das sich zeitgenössischer Musik annahm, als Komponist und in späteren Lebensjahren als Dirigent. Er bildete zahlreiche Schüler in Komposition aus.

Er entstammte einer einfachen Arbeiterfamilie. Sein Vater selbst war musikalisch, konnte jedoch seine Ambitionen nicht ausleben, bestand jedoch auf die musikalische Ausbildung seiner drei Kinder. So lernte Hindemith mit neun Jahren Geige.

Nach seinem Studium arbeitete er im Frankfurter Opernorchester. Über verschiedene Empfehlung wurde er 1927 an die Hochschule für Musik in Berlin berufen. 1929 lehrte er zusätzlich an der 1927 gegründeten Musikschule in Neukölln.

Sein Credo als Komponist war es, Gebrauchsmusik zu komponieren, die sich den sozialen Herausforderungen stellte und nicht nur zum reinen Selbstzweck diente. Er grenzte sich klar von Schönbergs 12-Tontechnik ab, genauso wie auch von der traditionellen Dur- Moll-tonalität. Man könnte seine Musik als freie Tonalität bezeichnen. Seine Werke sind für die Interpreten eine echte Herausforderung. In seinen Kompositionen finden sich viele frühchristliche Texte wieder. Erste Erfolge seiner Kompositionen konnte er bereits als knapp 30 Jähriger feiern unter anderem mit der Uraufführung seines Streichquartetts Opus 16 durch das Amar-Quartett. Er war unbestritten einer der richtungsweisenden aber auch umstrittensten Komponisten der zeitgenössischen Musik in Deutschland.

Unter dem erstarken des Nationalsozialismus verlagerte Hindemith seine Orchstertertätigkeit als Bratscher immer mehr ins Ausland. Von der NSDAP wurde seine Arbeit in Deutschland immer mehr behindert. Selbst Fürsprecher wie Furtwängler, der in einem bedeutenden Artikel in der Süddeutschen auf den Verdienst der Musik durch Hindemith hinwies und sich dadurch bei Parteigrössen wie Herrman Göring und Joseph Goebels Ärger einholte, nützen Hindemith nichts. Ab ca. 1937 war die Aufführung seiner Werke in Deutschland verboten und galt als "entartete" Musik, mit Hinweis auf Hindemiths Ehe zu seiner Frau Gertrud, jüdischer Abstammung. Ab 1938 gingen Hindemiths zunächst ins Exil in die Schweiz und ab 1940 in die USA. Er erhielt in Yale eine Kompositionsprofessur, die er bis 1953 innehielt. 1946 erhielt er ausserdem die Amerikanische Staatsbürgerschaft. Ab Ende der 40er Jahre startete Hindemith seine internationale Karriere als Dirigent. Er arbeitete in Wien, mit den Berliner Philharmoniker und vielen anderen bedeutenden Orchsestern. Ab 1950 wurde ein Lehrstuhl in Zürich für ihn eingerichtet, so dass er ab 1953 zurück nach Europa siedelte und in der Schweiz lebte. Zahlreiche Preise und Ehrungen zeugen von seinem grossen musikalischen Schaffen als Komponist und Dirigent. 1957 beendete er seine Lehrtätigkeiten und widmete sich nur noch dem Komponieren und Dirigieren. Nach der Uraufführung seines letzten Werkes am 12.11.1963 in Wien kehrte er vorerst nach Vevey, CH zurück. Doch an seinem Geburtstag erkrankte er schwer und liess sich ins Marienhospital nach Frankfurt am Main überweisen, wo er am 28.12.1963 an einer Bauchspeicheldrüsenentzündung starb.

Das Marienleben begegnete mir schon als Studentin. Meine Lehrerin Julia Varady empfahl mir mich damit zu beschäftigen. Ich war im 3. oder 4.Semester. Neugierig holte ich die Noten in der Bibliothek und schaute mir die Lieder an. Sie waren für mich schwer verständlich. Man darf nicht vergessen, dass ich im Prinzip mit meiner Stimme, etwas Theorie und Klavierspiel nach Berlin kam und sehr wenig Repertoirekenntnis. Ich hatte bis zum Studium vielleicht 4 Opern gesehen, geschweige denn einen Liederabend oder bedeutungsvolle Konzerte gehört. Es galt Repertoire zu erarbeiten, viele musikalische Sprachen kennen zu lernen. Doch Hindemith gehörte damals nicht dazu. Er war für mich mit den Texten Rilkes wie ein Buch mit 7 Siegeln.

Vor etwa 2 Jahren trug Andres Joho das Marienleben an mich heran. Er gab mir beide Fassungen. Auch Georg Christoph Sandmann sprach mit mir über das Marienleben. Immer mehr Menschen schienen mich in diese Richtung zu lenke. Doch erst dieses Jahr kurz vor dem ersten Lockdown kam ich in der Form zur Ruhe, dass ich die beiden sehr unterschiedlichen Fassungen mir genau anschauen konnte. Das erstaunliche dabei war, dass sich mir auf einmal die doch sehr verschlüsselten Texte Rilkes durch die Musik Hindemiths wie zu offenbaren begannen. Bei der zweiten Fassung tauchten lebendige Bilder vor meinem inneren Auge auf. Deswegen entschied ich mich für die zweite Fassung und nicht für eine Kombination beider Fassungen. Mit Constantin Alex fand ich einen Pianisten, der genauso neugierig war das Marienleben kennen zu lernen. So tauschten wir kurz vor dem ersten Lockdown die Noten aus und schmiedeten Pläne. Wer hätte gedacht, dass uns dieses Werk ein halbes Jahr treu begleiten würde? Es wirkt auf den ersten Blick tonal, doch sobald das Piano dazukommt gibt es viele "Störharmonien". Als Sängerin muss ich die Meldien absolut beherrschen. An manchen Tagen stand ich vor den Noten und fragte mich, ob ich die Melodie wirklich am Vortag schon geübt habe... Manche Stellen waren mit vertraut, andere fremd. Es sind für mich schwer eingängliche Melodien. Durch die vielen Quinten und Quarten die darin vorkommen, sind die Lieder auch schwer richtig zu intonieren. Zu Beginn konnte ich immer nur 2-3 der Lieder am Stück üben, danach qualmte mir der Kopf von all den Harmonien, Quinten, Quarten, Enharmonischenverwechslungen. In den gemeinsamen Proben sprachen wir genau ab, welche Lieder wir proben wollten. Mehr als 3 schafften wir nicht innerhalb von 2 Stunden detailliert zu probieren. Alleine die Melodie zu strukturieren ist sehr anspruchsvoll. Doch je tiefer ich in dieses Werk eintauche um so beindruckender wird es für mich. Alles liegt offen und dadurch zeigt sich jede kleinste Intonationsverstimmung. Die letzen Tage übte ich deshalb mit Stimmgerät. Ein gutes, anstrengendes Training. Noch ist mein Heft voller Zettel und Notzitzen, die ich Stück für Stück abarbeiten und perfektionieren werde bis zum Ewigkeitssonntag.

Nun sind wir in den Endproben. Auf einmal wird das singen und musizieren dieser Lieder wie fliegen. Es ergibt alles einen Sinn und wird klar, wie wenn der bewölkte Himmel aufreisst und die Sonne ihre Strahlen zu uns schickt. Harte Arbeit beginnt Früchte zu tragen.

Nun haben wir noch 3 grosse Proben vor uns bis wir am Totensonntag das Werk per Streaming durch die gegebenen Umstände des zweiten Lockdowns im Reuter-Saal der Humboldt Universität erklingen lassen können. Bis dahin ist es noch sehr viel Arbeit für mich. Doch es ist eine Arbeit, die ich für mein Leben und für mein Leben gerne machen. Damit für das Publikum auch etwas gewohntere, zugänglichere Melodien erklingen, kombinieren wir das Marienleben mit den vier letzten Liedern von Richard Strauss. Das Marienleben befasst sich, wie der Titel verät mit dem Leben Marias, der Mutter Gottes. Von ihrer Geburt über die Empfängnis Jesu hin zu seiner Kreuzigung bis schliesslich zu ihrem Tod und Übergang in das himmlische Reich. Strauss befasst sich in seinen vier letzten Liedern auf irdische Weise mit der Vergänglichkeit.

So werden wir den Bogen der irdischen Vergänglichkeit mit der heiligen Vergänglichkeit spannen, ergänzen und schliessen am Ewigkeitssonntag. Welcher Tag wäre passender als dieser für diese wunderbaren Werke?






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